Serie Quantentheorie. Teil 2: Nichtlokalität

Die Quantentheorie, so heißt es, sei nichtlokal. Aber was bedeutet das eigentlich? Im Physikstudium hatte ich zwar viel Mathematik lernen müssen, um die Vorhersagen der QT richtig ausrechenen zu können, aber was es mit der Nichtlokalität auf sich hat, hatte ich nicht verstanden und im Physikstudium auch nicht gelernt. Das habe ich erst vor etwa einem halben Jahr begriffen, mit einigem Abstand von der Physik. Dabei ist meiner Meinung nach die Nichtlokalität wirklich die geheimnisvollste Eigenschaft der QT, die dem Wirklichkeitsverständnis des modernen, aufgeklärten Menschen total zuwider läuft. Man muss sich allerdings schon ein bisschen in die Sache hineindenken, um die Bedeutung zu verstehen, die hinter dem Ganzen steckt. Aber die gute Nachricht ist, dass man es auch verstehen kann, ohne sich mit der komplizierten Mathematik der Quantenmechanik auszukennen. Ein bisschen logisches Denkvermögen, so wie es z.B. zum Poker spielen notwendig ist, reicht völlig aus. Und natürlich die Fähigkeit, die Vorurteile über die Beschaffenheit der Realität zu erkennen, die wir alle mit uns herumschleppen.

Es ist übrigens ganz interessant, dass Einstein derjenige war, der das besagte Vorurteil vehement verteidigte, obwohl er viele andere Vorurteile über die Beschaffenheit von Raum und Zeit ausräumte. Dieses Vorurteil lässt sich am einfachsten durch folgende Aussage beschreiben: „Der Baum ist auch dann da, wenn niemand hinsieht“: Die Grundprämisse der materialistischen Philosophie. Zusammen mit zwei Kollegen schrieb er eine berühmte Arbeit (Einstein, Podolski, Rosen, 1935), in der er zeigen wollte, dass die QT unvollständig sei, weil sie verlangt, dass das Ergebnis einer Messung noch nicht existiert, bevor die Messung durchgeführt wurde. Einstein war der Meinung, dass das nicht sein kann: Obwohl die QT eine statistische Theorie ist, die nur Wahrscheinlichkeiten für die möglichen Messergebnisse lieftert, müsse das Messergebnis trotzdem im verborgenen schon feststehen. Erst nach Einsteins Tod lieferte John Bell 1964 einen überraschenden Beweis, dass eine solche Vorstellung unvereinbar mit der QT ist. Das warf die Frage auf, was man nun aufgeben musste: Entweder war die QT falsch, und nur unter bestimmten Voraussetzung gültig, oder mit der Weltvorstellung, die von Einstein, Podolski und Rosen (im Folgenden kurz EPR) verteidigt wurde, stimmte etwas nicht.

Wie das in der empirischen Wissenschaft so ist, musste das Experiment im Labor entscheiden. Eine ganze Reihe solcher Experimente wurde inzwischen gemacht – mit einem überwätligendem Ausgang zugunsten der Quantentheorie – und zu ungunsten von EPR. Seit dem ersten Beweis von Bell gibt es eine ganze Reihe weiterer Beweise für die Nichtloklatlität der QT. Um ein Verständnis zu vermitteln, was Nichtlokatlität bedeutet, möchte ich im Folgenden einen Beweis von Lucien Hardy (1993) erklären, der den Vorzug hat, relativ simpel zu sein.

Stell dir vor, du führst mit zwei Freunden – üblicherweise heißen sie Alice und Bob – folgendes Experiment durch: Alice und Bob bekommen von dir je eines von zwei gleichartigen Geräten. Jedes dieser Geräte hat zwei Tasten mit den Aufdrucken „U“ und „D“. Man kann entweder genau einmal auf „U“, oder auf „D“ drücken. Nachdem eine Taste gedrückt ist, wird das Gerät unbrauchbar. Man kann es wegschmeißen und muss zwei neue Geräte präparieren. Nach dem Drücken einer Taste liefert das Gerät eine von zwei möglichen Antworten „1“ oder „0“. Für jedes Gerät sind also genau vier mögliche Zustände denkbar: Entweder man drückt „U“ und bekommt als Antwort „1“ zurück, oder man drückt „U“ und bekommt „0“, oder man drückt „D“ und bekommt „1“, oder man drückt „D“ und bekommt „0“. Was in den Geräten passiert, wissen Alice und Bob nicht. Das darfst nur du wissen, aber du hälst es geheim. Alice und Bob haben auch keine Möglichkeit herauszufinden, wie die Geräte funktionieren, denn nachdem sie einmal benutzt wurden, funktionieren sie nicht mehr.

Du vereinbarst mit Alice und Bob, dass du die Geräte unter Einhaltung einiger Regeln präparieren darfst. Abgesehen von diesen Regeln darft du in die Geräte einbauen, was du willst. Der Versuch kann mehrmals mit jeweils zwei neuen Geräten wiederholt werden, die jedesmal anders präpariert werden dürfen, solange die vorgegebenen Regeln eingehalten werden. Diese Regeln sind folgende:

1. Regel: Es darf keinerlei Kommunikation zwischen den beiden Geräten geben, z.B. Funkkontakt ist verboten. Das bedeutet, Bobs Gerät kann niemals wissen, welche Taste Alice auf dem anderen Gerät gedrückt hat, und umgekehrt.

2. Regel: Wenn Alice und Bob beide auf „U“ drücken, ist das Produkt der Antworten, die sie bekommen, Null. Da die Antwort nur „1“ oder „0“ sein kann, bedeutet das, dass entweder beide die Antwort „0“ erhalten (0*0=0), oder einer eine „0“ und der andere eine „1“ (0*1=0). Was nicht vorkommen darf, ist, dass beide eine „1“ erhalten, denn 1*1=1

3. Regel: Jetzt wird es etwas trickreicher. Wenn Alice auf ihrem Gerät auf „D“ drückt, und die Antwort „1“ bekommt, dann muss Bob mit Sicherheit ebenfalls eine „1“ bekommen, wenn er auf „U“ drückt.

4. Regel: Dies ist der symmetrische Fall zu Regel Nr. 3: Wenn Bob auf seinem Gerät auf „D“ drückt, und die Antwort „1“ bekommt, dann muss Alice mit Sicherheit ebenfalls eine „1“ bekommen, wenn sie auf „U“ drückt.

5. Regel: Wenn Alice und Bob beide auf „D“ drücken, bekommen sie mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit beide eine „1“ als Antwort.

Die Frage lautet: Ist es möglich, die beiden Geräte so zu präparieren, dass alle 5 Regeln immer mit Sicherheit eingehalten werden?

Um an diese Frage herangehen zu können, ist es erst einmal wichtig, sich bewusst zu machen, dass ein wesenltiches Merkmal dieses Experiments die Entscheidungsfreiheit der „Agenten“ Alice und Bob ist, welche der beiden Tasten sie jeweils betätigen wollen. Dabei spielt es keine Rolle, ob Alice und Bob sich vor der Durchführung des Experiments absprechen, welche Tasten sie wählen wollen, oder ob sie sich unabhängig voneinander entscheiden. Sie könnten ihre Entscheidung erst im letzten Moment vor dem Drücken der Taste fällen. Weiterhin spielt es keine Rolle, wie weit die beiden voneinander entfernt sind, wenn sie die Tasten betätigen, und in welchem zeitlichen Abstand sie es tun.

Wir stellen uns nun vor, den Versuch oftmals hintereinander durchzuführen, wobei die Geräte jedesmal neu präpariert werden. Wir wiederholen den Versuch so oft, bis es irgendwann einmal vorkommt, dass sowohl Alice als auch Bob auf „D“ drücken, und beide die Antwort „1“ bekommen. Nach Regel Nr. 5 müsste dieser Fall gelegentlich auftreten, sofern beide in einem Bruchteil der Fälle gemeinsam auf „D“ drücken. Wir betracheten diese spezielle Situation zunächst einmal aus der Sicht von Alice. Sie hat auf „D“ gedrückt, und eine „1“ als Antwort erhalten. Nach Regel Nr. 1 kann ihr Gerät aber nicht wissen, welche Taste Bob auf dem anderen Gerät gedrückt hat, oder, falls sie früher dran war als Bob, erst drücken wird. Die Antwort „1“ kann also unmöglich kausal mit Bobs Entscheidung zusammenhängen, d.h. die „1“ muss unabhängig davon zustande gekommen sein, dass Bob in diesem Fall auf dem anderen Gerät ebenfalls auf „D“ gedrückt hat bzw. drücken wird und die Antwort „1“ bekommten hat bzw. bekommen wird. Wir gehen also von der Annahme aus, dass Alice auch dann eine „1“ bekommen hätte, wenn Bob sich kurzfristig umentschieden und auf „U“ gedrückt hätte. Nach Regel Nr. 3 würde er dann ebenfalls eine „1“ bekommen, denn Alice hat ja auf „D“ gedrückt und eine „1“ bekommen.

Denselben Gedankengang können wir auch aus der Sicht von Bob nachvollziehen. In der genannten Situation hat er auf „D“ gedrückt und eine „1“ als Antwort erhalten. Wegen Regel Nr. 1 muss dieses Ergebnis unabhängig davon zustande gekommen sein, dass Alice ebenfalls auf „D“ gedrückt hat bzw. drücken wird und eine „1“ bekommen hat bzw. bekommen wird. Bob hätte also auch dann eine „1“ bekommen, wenn Alice auf „U“ gedrückt hätte. Dann hätte er – nach Regel Nr. 4 – ebenfalls eine „1“ bekommen.

Bis jetzt scheint dieser Gedankengang noch völlig in Ordnung zu sein. Nun kommt jedoch das Vorurteil ins Spiel, dass ich eingangs erwähnte, und das von EPR verteidigt wurde. Mit einer Formulierung wie „wenn der und der so und so gehandelt hätte, dann wäre das und das geschehen“ neigen wir nämlich zu der Vorstellung, dass es irgendwie möglich wäre, in einer tatsächlichen Situation die Uhr – so zu sagen – zurückzudrehen, um durch eine „Umentscheidung“ zu einer bereits festliegenden alternativen Wirklichkeit zu gelangen. Wenn das so wäre, gäbe es keine Möglichkeit, die beiden Geräte für Alice und Bob so zu präparieren, dass alle Regeln 1 bis 5 eingehalten werden können, und zwar aus folgendem Grund: Wir müssten dann nämlich nach der obigen Argumentation davon ausgehen, dass in dem erwähnten Fall, dass Alice und Bob beide auf „U“ drücken und beide eine „1“ als Antwort erhalten, beide ebenfalls eine „1“ bekommen hätten, wenn beide auf „D“ gedrückt hätten. Das wird aber von der Regel Nr. 2 verboten.

Im Weltbild der „klassischen“ Physik, die nur deterministische Gesetze und den Zufall kennt, aber keine Quantentheorie, ist die Konstruktion der beiden Geräte tatsächlich nicht möglich, wie die obige Argumentation von Lucien Hardy beweist. Sie wäre nur möglich, wenn man mit Regel Nr. 1 bricht, und eine Kommunikation zwischen den Geräten erlaubt: Sobald eine Taste auf einem der Geräte gedrückt wird, könnte dieses Gerät z.B. per Funk die Information über die gedrückte Taste an das zweite Gerät senden, das dann seinerseits die Antworten auf die beiden Tasten so schalten kann, dass die Regeln 2 bis 5 erfüllt werden. Wenn Alice und Bob aber sehr weit voneinander entfernt sind, und sie sich beide so schnell entscheiden und auf die Tasten drücken, dass das Licht von einem zum jeweils anderen Gerät länger braucht, als der Erhalt der Antworten, müssten die Signale sich mit Überlichtgeschwindigkeit bewegen. Das wäre eine klare Verletzung der Einsteinschen Relativitätstheorie.

Das weltbilderschütternde Ergebnis der Quantenphysik ist es nun, dass es tatsächlich – zumindest im Prinzip – möglich ist, die beiden Geräte so zu bauen, dass alle Regeln 1 bis 5 eingehalten werden, und zwar mit Hilfe sog. „verschränkter Quantenzustände“. Ein solcher verschänkter Zustand könnte z.B. durch „Paarerzeugung“ eines Elektrons und eines Positrons erzeugt werden; das Elektron wird in das Gerät von Alice eingebaut, und das Positron in das von Bob – bzw. umgekehrt. Die beiden Tasten „U“ und „D“ sind jeweis mit einer von zwei Einstellungen eines Messgeräts verbunden, das den Spin (quantenmechanischer Eigendrehimpuls) des Elektrons/Positrons misst. Nach der QT gibt es für jede Messung des Spins eines Elektrons/Positrons zwei mögliche Messergebnisse, die mit Antworten „0“ und „1“ verbunden werden können. Wie das genau funktioniert, braucht hier nicht im Detail erklärt zu werden, das kann man in vielen Quantenphysikbüchern nachlesen. Aus den mathematischen Gleichungen der QT konnte Hardy ableiten, dass es möglich ist, mit maximal ca. 9% Wahrscheinlichkeit zu erreichen, dass sowohl Alice als auch Bob eine „1“ als Antwort erhalten, wenn sie beide auf „D“ drücken (Regel Nr. 5).

Jetzt wird wahrscheinlich klarer, was mit Nichtlokalität gemeint ist. Der Begriff bezieht sich nicht nur auf die Existenz verschränkter Zustände, sondern auf die Eigenschaft, dass räumlich getrennte Teile eines verschränkten Zustandes auf eine Weise korreliert sind, die sich nicht auf herkömmliche deterministische Weise erklären lassen, ohne einen irgendwie gearteten Informationsaustausch zwischen diesen Teilen annehmen zu müssen, den es jedoch nicht geben kann. Es ist übrigens bewiesen, dass die Quantennichtlokalität keine überlichtschnelle Signalübertragung zulässt. Erst wenn Alice und Bob nach dem Experiment auf herkömmliche Weise miteinander kommunizieren und die Ergebnisse, die sie bekommen haben, auswerten, müssen sie zu dem Schluss kommen, dass diese Ergebnisse nur durch eine geheimnisvolle Informationsübertragung zustande gekommen sein könnten – vorausgesetzt sie halten an einem herkömmlichen deterministischen Weltvertändnis fest. In allen Fällen, in denen man eine solche Informationsübertragung nicht voraussetzen muss, spricht man von Lokalität.