Schon in den letzten beiden Beiträgen hatte ich angekündigt, über dieses folgende Thema zu schreiben. Zeit, es mal in die Tat umzusetzen. Es soll darum gehen, warum ich vergangenes Jahr fast zum Atheisten geworden bin. Und warum mir die Corona-Krise dazwischen kam.
Es war so etwa um die Weihnachtszeit 2018/2019, dass ich begann, einen Typ von Youtube-Videos (und Blog-Artikeln, selbstverständlich) anzusehen, den ich davor noch nie angesehen habe, weil es mich erstens nicht interessierte, und zweitens, weil ich sogar eine gewisse Aversion dagegen hatte: „Deconversion“-Videos. Der englische Begriff deshalb, weil es diesen Typ von Videos im deutschsprachigen Netz (fast) nicht gibt. Und die wenigen, die es gibt, sind keine besonders guten. Deshalb gibt es auch kein gutes deutsches Wort für „Deconversion“. Manchmal habe ich „Entkehrung“ gelesen, aber das Wort gefällt mir nicht — ist gerade mal gut genug für den Titel dieses Blogeintrags.
Aber was ist denn nun ein Deconversion-Video? Kurz gesagt, ist es das Zeugnis eines Menschen, der die Kamera anschaltet und darüber spricht, dass er/sie früher einmal ein gläubiger Christ war, dann aber den Glauben abgelegt hat und Atheist geworden ist. Ein (heute noch) gläubiger Christ würde so einen Menschen wohl als einen vom Glauben Abgefallenen bezeichnen — sie selbst bezeichnen sich dagegen lieber als „dekonvertiert“.
Was mich fasziniert, ist der unterschiedliche Charakter von Bekehrungs-Zeugnissen und Deconversion-Zeugnissen. In ersteren erzählen Menschen davon, wie sie zum christlichen Glauben kamen — und vorher Atheisten, Okkultisten, Satanisten, und Angehörige anderer Religionen gewesen seien. Die meisten dieser Zeugnisse erzählen, dass die Bekehrung sehr schnell, oft wort-wörtlich von heute auf morgen, vonstatten ging. Meistens hatten die Erzähler mit Depressionen, Anstzuständen, dämonischen Attacken, Alkohol, Drogen oder Ähnlichem zu tun, dann bekehrten sie sich zu Jesus Christus, und von einem Augenblick auf den anderen wurden ihnen die dämonischen Zustände von Gott abgenommen. Danach sei plötzlich alles anders geworden, ihr Leben veränderte sich, sie begannen in der Bibel zu lesen, und waren „gerettet“.
Deconversion-Zeugnisse sind dagegen ganz anders. Die meisten berichten von einem langwierigen und schmerzhaften Prozess, der sich bei manchen über Jahre hinzog. Viele dieser „Dekonvertiten“ waren über Jahrzehnte bibeltreue Christen, und hatten ihr ganzes Leben darauf aufgebaut: Ihre Kirchengemeinde, machmal sogar als Prediger, ihre Familie, ihre Partner, oft sogar ihre Kinder, alles war auf ihren Glauben ausgerichtet. Es war ihr Lebensinhalt. Bis die Zweifel Schritt für Schritt zunahmen bis hin zu dem Punkt, wo es ihnen nicht mehr möglich war, weiterhin ihren Freunden und Angehörigen vorzuspielen, dass sie immer noch gläubig seien. Bis sie ihrgendwann die Konsequenzen zogen und sich von al dem trennten, oft unter schmerzlichen Opfern. Sicher habe ich auch einige Deconversion-Geschichten gesehen, die ich eher oberflächlich fand, aber einige sind wirklich tief und ergreifend, und ich halte diese Menschen für aufrichtige Wahrheitssucher. Hier ein paar Beispiele, wie gesagt, leider auf englisch:
Jeff (vom letzten Video) erklärt seinen Dekonvertierungsprozess auf seinem Kanal „Stairwary to reason“ ungefähr so (ich zitiere aus dem Gedächtnis, weil ich das betreffende Video wohl auf die Schnelle nicht wiederfinde): Er erinnerte sich an seinen Chemieunterricht in der Schule. Der Chemielehrer zeigt ein Glas mit einer roten Flüssigkeit, und gibt einen Tropfen einer anderen Flüssigkeit A dazu. Die gesamte Flüssigkeit im Glas färbt sich blau. Dann gibt der Lehrer einen Tropfen einer dritten Flüssigkeit B dazu, und die Flüssigkeit im Glas wird wieder rot. Ein weiterer Tropfen A, und es wird wieder blau. Jetzt braucht es aber zwei Tropfen von B, damit es wieder zurück nach rot umschlägt. Ein weiterer Tropfen A und es wird wieder blau. Diesmal braucht es 7 Tropfen von B um es zurück nach rot zu verwandeln. Ein Tropfen A und es wird wieder blau. Aber ab jetzt kann der Chemielehrer so viele Tropfen B dazufügen, wie er will: Die Flüssigkeit bleibt blau, und schlägt nie wieder zurück nach rot um.
So ähnlich sei es bei ihm gewesen, als seine ersten Zweifel an der absoluten Wahrheit seines früheren Glaubens gewachsen seinen: Ein Gespräch mit seinem Pastor, und alles war wieder in Butter. Aber nach einiger Zeit seien die Zweifel wieder gekommen. Diesmal musste der Pastor schon etwas mehr Überzeigungsarbeit leisten, um Jeffs Zweifel auszuräumen. Aber die Zweifen kamen erneut, verfestigten sich, nahmen klarere Konturen an, und der Pastor musste schon sein bestes geben, um sein Schäfchen wieder in die Herde zurück zu führen. Bis nach einiger Zeit die Zweifel zu einer neuen Überzeugung wurden, die Überzeugung, dass es kein Zurück mehr in den früheren Glauben geben kann. Egal, wie sich der Pastor auch anstrengt, argumentiert, überredet, droht: Jeffs Dekonversion war abgeschlossen und konnte nicht mehr rückgängig gemacht werden.
Kommen wir also nun zu der Frage, warum diese Menschen nach so langer Zeit ihren christlichen Glauben verlassen. Ein oft vorgebrachtes Strohmannargument ist, dass die Menschen lieber den naturwissenschaftlichen Erklärungen glauben, weil sie es so in der Schule und in den Medien erklärt bekommen. Also eine Weltentstehung ohne Gott, durch Urknall, Evolutionstheorie usw.. Das würden sie eher glauben, als z.B. die Erklärungen in der Bibel, mit einer 6000 Jahre alten Erde, die in 8 Tagen durch Gottes Wort erschaffen wurde. Ja, solche Fälle gibt es natürlich auch, aber es sind meistens die oberflächlicheren, die ich oben erwähnte. Auch die anspruchsvollen Dekonvertiten, wie in den oben geteilten Videos, vertreten heute ein naturwissenschaftlich-atheistisches Weltbild, owbohl sie früher an die Erklärungen der Bibel gelaubten. (Es gibt noch mehr solche Strohmannargumente, die der Sprecher von „Alone in the Wild“ im ersten Video aufzählt.) Aber die Übernehme des naturwissenschaftlichen Weltbildes war nicht der primäre Grund für ihre Abwendung vom Glauben, sondern kam erst an zweiter Stelle. Die Gründe, die an erster Stelle zum Zweifel führten, waren vielmehr die folgenden:
- Woher kann ich wissen, dass ein Buch das unfehlbare Wort Gottes ist, nur weil dieses Buch das über sich selbst behauptet?
- Warum entdecke ich so viele Widersprüche in diesem Buch, muss mich aber zwingen zu glauben, dass diese Widersprüche keine echten Widersprüche sind, sondern mein menschlicher Verstand einfach zu unfähig ist, um das erkennen zu können?
- Warum soll ich mich zwingen, weiter daran zu glauben, nur aus Angst, sonst in die Hölle zu kommen? Ist das wirklich der einzige Grund? Und ist es ein guter Grund?
- Warum erschafft Gott eine Welt, in der die große Mehrzahl der Menschen „verlogen geht“, während nur eine kleine Elite „gerettet“ wird? Ist so eine Welt nicht völlig sinnlos?
- Wieso hat Gott zugelassen, dass es einen Widersacher (Satan) gibt? Wenn Gott der Schöpfer von allem ist, dann hat er ja auch den Teufel erschaffen!
- Selbst wenn ich „gerettet“ werde, aber dafür viele meiner heutigen Familienangehörigen und Freunde ewig in der Hölle gefoltert werden, weil sie sich nicht „bekehrt“ haben, wie soll ich denn dann im „ewigen Leben“ glücklich sein? Das kann man doch nur schaffen, wenn man selbst ein Psychopath ist!
- Manche gläubigen Christen sagen sogar, die Schöpfung sei sinnlos, wenn alle gerettet würden. Gerettet werden macht also keinen Spaß, wenn die anderen auch gerettet werden? Diese Leute machen ihr Heil davon abhängig, dass unzählige andere ewig in der Hölle gequält werden. Das ist eindeutig parasitäres Denken. Wie krank ist das denn?
Diese Fragen (und es gibt selbstverständlich noch viele mehr) scheinen mir die Hauptgründe zu sein. Wie gesagt, die Hinwendung zu naturalistischen, wissenschaftlichen Erklärungen unsere Herkunft kommt dann oft erst später. Denn, irgend etwas muss der Mensch ja schließlich glauben, und wenn der frühere Glaube wegfällt, muss ein neuer her.
Man kann sich nun natürlich fragen, warum die Mehrzahl der Dekonvertiten zu Atheisten wird. Schließlich gibt es ja auch christliche Überzeugungen, die rationale Lösungen für die oben genannten Probleme anbieten können, z.B.:
- Die Lehre von der Präexistenz (also Vorexistenz) der Seele könnte erklären, warum die Menschen arm und reich, gesund und krank, behindert und nichtbehindert usw. geboren werden, weil dies als Konsequenz des Seelenzustandes vor der Empfängnis verstanden werden könnte. Dann muss man nicht annehmen, dass Gott die Menschen aus reiner Willkür so unterschiedlich erschaffen hat.
- Die Lehre von einer Allversöhnung könnte die Möglichkeit offen lassen, dass böse Menschen nur begrenzte Zeit in der Hölle verbringen müssen, und dass sie selbst dort die Möglichkeit bekommen, sich zu verbessern. Damit könnte die Vorstellung von einem Gott, der die Verdammten aus rein sadistischer Rachsucht ohne Ende quält, ausgeräumt werden.
- Die Lehre einer wiederholten Wiederverkörperung (Reinkarnation) würde beide oben genannten Möglichkeiten miteinander vereinen.
Nun ist es aber eine interessante Beobachtung, dass Christen, die Lehren wie die oben genannten vertreten, von bibeltreuen Fanatikern sehr viel härter attackiert werden, als Atheisten. Ersteren wird u.a. vorgeworfen, sie seien Irrlehrer, Verführer, Satanisten, Lügner, falsche Schlangen, und schlimmeres. Dagegen lautet die schlimmste „Beleidigung“, die die Bibel für Atheisten bereit hält, so:
„Der Narr spricht in seinem Herzen: Es gibt keinen Gott.“
Ganz ehrlich: Damit kann ich leben. Als Narr genießt man immerhin Narrenfreiheit, und muss nicht alles blind glauben, was einem vorgesetzt wird. Den Vorwurf, ein Satanist, Lügner, oder Verführer zu sein, finde ich dagegen schon wesentlich schlimmer. Und genau das ist — so glaube ich — der Grund dafür, warum sie die meisten Dekonvertiten sich für den Atheismus entscheiden. Zudem ist der Atheismus heute in den westlichen Gesellschaften auch eine akzeptierte Weltanschauung, in die sich die Menschen, die durch so eine schwere Glaubenskrise gegangen sind, einfügen und Hilfe suchen können. Die wesentliche Hemmschwelle, die beim Übergang in ein atheistisches Weltbild überwunden werden muss, ist, zumindest die Möglichkeit in Betracht zu ziehen, dass mit dem leiblichen Tod das Bewusstsein erlischt, und dass unsere bewusste Existenz auf die irdische Zeitspanne zwischen Zeugung und Tod begrenzt ist. Und zwar verbunden mit der Erkenntnis, dass dies nicht bedeuten würde, dass dieses Leben sinnlos ist, und dass man damit nicht zu einem unmoralischen Monster werden würde. Ich denke mal, die Mehrheit der Atheisten sind auch keine Dogmatiker, die die Möglichkeit einer Existenz jenseits der materiellen Ebene konsequent ablehnen. Die fleißige atheistische Bloggerin „Captain Cassidy“ drückte es in etwas so aus (aus dem Gedächtnis zitiert):
Wenn juckt es schon, wo er nach sinem leiblichen Tod sein wird, wenn überhaupt irgendwo, solage er nicht daran glaubt, die Verdammnis in der Hölle verdient zu haben?
Sich diese Möglichkeit einmal bewusst zu machen empfinde ich tatsächlich als bereichernd, auch wenn ich dies tatsächlich nicht so glaube. Und damit komme ich auch zu letzten Punkt dieses Blogeintrags, den ich anfangs bereits erwähnte, nämlich, warum mich die Corona-Krise davon abhielt, zum Atheisten zu werden, wie die Sprecher in den obigen vier Videos. Nun, um es kurz zu machen, die dramatischen Ereignisse, sie sich die seit Ausbruch dieser Krise abspielen, zeigen so deutlich, dass wir in einer Matrix-Welt leben, was mit die Annahme einer rein sekularen Welsicht unmöglich gemacht hat. Statt dessen wähle ich den Weg der Mitte wie ihn der Erhabene SammaSambuddha lehrte, jenseits von einem dogmatischen Glauben an eine „heilige Schrift“ und an einen allmächtigen Schöpfergott, aber auch jenseits von einem reinen Naturalismus. Damit ist nicht der „lauwarme“ Wischiwaschi-Mittelweg gemeint, in dem Sinne, dass man sich um eine Entscheidung für einen klaren Weg herumdrücken will. Sondern gemeint es ist der radikale Mittelweg, wie der Schweizer Philosoph Armin Risi sich ausdrückte, der jeweils beide Extremwege als Irrtum erkannt hat, und sich über beide hinweg setzt.
Im nächsten Blogbeitrag sehen wir uns an, was passiert, wenn Atheismus nichts mehr mit Wahrheitssuche zu tun hat, sondern zu einem Kult wird.