Wissenschaft kann nur funktionieren, wenn sie mit einem Sinn behaftet ist. Es reicht nicht, nur das nötige Wissen, die nötige Ausrüstung und die nötigen Methoden zu Verfügung zu haben, um in der Wissenschaft Neues zu leisten. Man braucht auch wirklich ein Ziel, eine Warum-Frage (die Wie-Frage allein reicht nicht), um eine Arbeit erfolgreich abschließen zu können. Bei der Präsentation meines Projekts, an dem ich mittlerweile schon fast zwei Jahre lang arbeite, ohne wirklich einen Erfolg verbucht zu haben, wurde mir das deutlich. Nach meiner Präsentation stellte jemand die Frage, was ich denn eigentlich von dem lerne, an dem ich gearbeitet habe. Leider war das genau die Frage, die ich befürchtet hatte, da ich sie mir seit einiger Zeit selber stelle, bisher ohne Erfolg. Ich hatte die Arbeit damals von einem Kollegen, der unsere Arbeitsgruppe mittlerweile verlassen hat, übernommen, und meinte, ich könnte sie fertig stellen. Ich verließ mich fälschlicherweise darauf, dass mein Vorgänger sich zu Beginn des Projekts schon bewusst sei, welches Ziel die Arbeit (und es war eine ganze Menge Arbeit) eigentlich haben sollte. Je länger ich daran arbeitete, desto unkarer wurde mir dieses Ziel, desto mehr musste ich mich zum Weiterarbeiten zwingen. Aber erst seit dieser Präsentation letzte Woche wurde mir klar, dass ich versucht habe, diese Tatsache zu verdrängen, und das das jetzt nicht mehr geht.
Die Frage beseht für mich jetzt darin, welche Optionen offen stehen. Eine Möglichkeit wäre, das Vorhaben ganz aufzugeben. Das wäre schade um die vertane Arbeit, aber es würde mir die Möglichkeit eröffnen, etwas neues zu beginnen. Eine andere Möglichkeit wäre, dem jetzigen Stand der Arbeit einen Sinn, eine interessante Fragestellung, im Nachhinein zuzuschreiben, die durch die Ergebnisse, die bis jetzt erarbeitet sind, beantwortet wird. Dann könnte evtl. noch eine interessante Veröffentlichung daraus werden. Dieser Möglichkeit neige ich monentan zu. Die dritte Möglichkeit wäre, mir eine neue Fragstellung zu überlegen, und die Arbeit zu auszuweiten. Das würde allerdings meine Geduld herausfordern, und würde ich nur nach reiflicher Überprüfung der Erfolgschancen auf mich nehmen, um eine weitere Frustration zu vermeiden. Die vierte Möglichkeit wäre, den jetzigen Stand der Ergebnisse über ihren Wert zu verkaufen. Dann würde ich nicht als Wissenschaftler handeln, sondern als Vertreter. Man muss es ja nicht gleich so machen wie vuz Guttenberg, aber das kommt für mich nicht in Frage.
Der philosophisch interessante Zusammenhang mit diesem Dilemma ist die Frage nach dem Sinn. Diese Frage ist eine Warum-Frage, und Warum-Fragen sind nach gängiger Vorstellung religiöse Fragen, die in der Wissenschaft nichts zu suchen habe. Trotzdem ist es meine gegenteilige Erfahrung, dass ohne eine klare Vorstellung von einem Ziel keine erfolgreiche Wissenschaft möglich ist. Es gibt viele erfolgreiche Wissenschaftler, und gehe davon aus, dass sie deshalb erfolgreich waren, weil sie ganz klar von dem Sinn in ihrer Forschung überzeugt sind, und ganz klare Vorstellungen von einem Ziel haben. Leider kommt es mir aber so vor, dass es außer mir nur wenige gibt, die sich mit der Sinnfrage beschäftigen. Ich glaube aber, dass die meisten anderen Wissenschaftler bessere Kommunikationsfähigkeiten („Netzwerkfähigkeiten“, wie es heute heißt) als ich besitzen, und viel eher bereit sind, sich die Frage, wozu ihre Forschung gut sein soll, von sog. „Geldgebern“ vorgeben zu lassen. Auch scheint es in diesem Metier so zu sein, dass das Versprechen auf eine Karriere bereits als Antwort auf die Sinnfrage akzeptiert wird. Auch da bin ich eher als die Ausnahme, da mir das nicht reicht.