Entscheidungsphase

In letzter Zeit habe ich ziemlich viel über Quantenphysik und eine wissenschaftliche Theorie der Willensfreiheit geschrieben. Dabei habe ich meinen Blog vor inzwischen fast genau vier Jahren begonnen, nicht um die Willensfreiheit theoretisch zu ergründen, sondern vielmehr als Hilfestellung für ihre praktische Anwendung (in Wirklichkeit ist nur beides zusammen möglich). Nur aus diesem Grund habe ich den Blog auch „willensfreiheit“ genannt. In dieser Zeit ging es mir überhaupt nicht gut. Ich war von Ängsten an meiner Existenz, an der sozialen Kontakten mit anderen, und von Schuldgefühlen geplagt. Ich sah mich als unfähig und unberechtigt an, meine Bedürfnisse gegenüber anderen zu artikulieren. Zwar sind das Themen, mit denen ich schon immer – vor dieser persönlichen Krise, aber auch danach – mehr oder weniger zu kämpfen habe bzw. hatte, aber in dieser Zeit war es besonders schlimm. Wenn man sich meine ersten Blogeinträge ansieht, kann man sich das vielleicht in etwa vorstellen, was da abging.

Eine eigene Theorie, warum ich in diese Krise hineingeraten bin, habe ich mir über die Zeit entwickelt, und ich halte sie auch bis heute für plausibel. Es war eine wichtige Umbruchszeit in meinem Leben, in der ich gerade dabei war, meine Dissertation in Physik abzuschließen. Damals standen mir in einer kurzen Zeitspanne von vielleicht vier bis sechs Monaten eine Menge möglicher Wege zur Verfügung, mein Leben weiterzuführen. Ich denke, dass mir in dieser Zeitspanne echte, relativ weitgehende Entscheidungsfreiheit zur Verfügung stand. Ich gehe nicht von der Annahme aus, dass der Mensch permanent in der Lage ist, völlig freie, undeterminierte Willensentscheidungen zu treffen. Ich glaube zwar schon, dass wir immer, zu jedem Zeitpunkt, in der Lage sind, etwas zu tun, aber es hängt sicherlich von der jeweiligen Situation ab, wie viel wir tun können, wieviel Anstrengung dafür nötig ist, und wie lange es dauert, bis Resultate spürbar werden. Die Zeiten dagegen, in denen wir wirklich weitehende Entscheidungen treffen können, sind für die meisten Menschen aber wahrscheinlich relativ selten. Gerade deshalb ist stets Achtsamkeit über die eigenen Handlungen geboten, denn es ist immer damit zu rechnen, dass eine solche Situation unerwartet wieder entstehen kann, und sich das eigene Schicksal in zwei oder mehre mögliche Wege aufspaltet, je nachdem, wie man sich entscheidet. Das ist im wesentlichen das, was ich unter „Karma“ verstehe, ein Begriff, der aus den fernöstlichen Religionen entliehen worden ist, und der meines Wissens nach in der wesltichen Philosophie keine direkte Entsprechung hat, obwohl er mit dem eher westlich geprägten Thema Willensfreiheit in engem Zusammenhang steht.

Um den Kreis wieder zu schließen: Ich glaube heute, dass ich im Jahr 2007 aufgrund unzutreffender Vorstellungen über die Welt – und über mich selbst – in einer Umbruchssituation meines Lebens in Existenzängste geraten bin, die mich wiederum dazu gebracht haben, wichtige Hinweise meiner Umwelt (die ich als Spiegel meiner seelischen Innenwelt verstehe) zu übersehen und zu überhören, was mich – schlussendlich – in eine Situation katapultiert hat, in die ich eigentlich gar nicht hinein wollte.

Bisher habe ich diese Theorie ausschließlich für mich selbst behalten; aber hier passt sie eigentlich ganz gut hin, denn wie ich eingangs schon schrieb, war der Beginn des „willensfreiheit“ Blog eine der Maßnahmen, die ich im Folgejahr 2008 unternahm, um aus dieser sich äußerst beschissen anfühlenden Situation wieder herauszukommen (Das ist irgendwie typisch für mich: erst dann aktiv werden, wenn´s allzu brenzlig wird…). Allmählich begannen die Maßnahmen dann auch zu wirken: Zunächst verschwanden die Angstzustände und das Gefühl, mit der Situation ganz alleine zu sein. Dann besserte sich das Gefühl der Unsicherheit, und inzwischen auch weitgehend die Zweifel bezüglich meiner Berufswahl.

Heute ist mein Leben ein völlig anderes als zu der Zeit bevor der entstandenen Krisensituation. Eine völlig andere Familiensituation; eine andere Stadt; und statt der Quantenphysik beschäftige ich mich jetzt beruflich mit dem Klima – ein wesentlich politischeres Thema als das erstere (wer weiß, vielleicht wird es damnächst einmal genau umgekehrt sein…). Die meisten meiner früheren Hobbys sind dieser Krisensituation zum Opfer gefallen. Ich habe bisher nicht mehr die Zeit und die Gelegenheit, sie wieder aufzunehmen. Vermutlich hätte ich es einfacher haben können, hätte ich in der Entscheidungsphase im Jahr 2007 besser auf mein Herz statt auf mein Ego gehört – und auf die Vorschläge einige meiner Freunde.

Eine solche Erkenntnis ist eine Gratwanderung: Sich einerseits selbst einzugestehen, dass man für seine eingene Situation in einer bestimmten Weise selbstverantwortlich ist, andererseits aber auch nicht in Selbstvorwürfe zu verfallen (ich neige zu letzterem). Und selbst wenn man es hinkriegt, hier den richtigen Weg zu gehen, gibt einem niemandem das Recht, über andere zu urteilen, die durch ihren freien Willen in eine schwierige Situation geraten sind. „Eigenverantwortlich“ (der Kampfbegriff des Neoliberalismus schlechthin) ist man nur gegenüber sich selber, anderen gegenüber ist man entweder verantwortungsvoll oder verantwortungslos.

3 Gedanken zu “Entscheidungsphase

  1. Toller Eintrag! 🙂
    Meine Schwierigkeit besteht darin, dass es mit der Zeit einfach auch viele Abhängigkeiten gibt, die die Entscheidungsfreiheit dann einschränken. Sofern man sich auf z.B. Familiengründung, Hausbau, gewissen Lebensstandard eingelassen hat, wird die Entscheidungsfreiheit immer mehr eingeschränkt. Aber man hatte ja ursprünglich die Wahl diese Wege zu gehen. Trotzdem ist es für mich verdammt schwierig (und wohl für sehr viele) die richtige Entscheidung für die Zukunft zu treffen.

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  2. Hallo ratloser, entschuldige die späte Antwort. Ich war verreist, und von manchen Ländern aus kann man blog.de nur per proxy erreichen. Und selbst das ist manchmal nicht möglich.

    Ich erlebe das ähnlich wie du. Je mehr man versucht, sich der Gesellschaft (sprich: „so, wie man sein soll“. Mir gefällt dafür der Begriff „Matrix“) anzuassen, desto mehr scheint man seine Willensfreiheit einzubüßen. Wenn man sich dagegen gar nicht anpassen will, läuft man Gefahr, ganz aus der Gesellschaft herauszufallen. Das ist wirklich eine Gratwanderung, und ich finde es auch sehr schwierig, einerseits ein gutes Leben führen zu können, ohne seinen freien Willen zu verlieren.

    Ich denke aber auch, wenn man das überhaupt erst einmal erkannt hat, ist der erste Schritt schon einmal getan.

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